Erinnerung und Frieden
Rede beim »Treffen der Generationen« am 13. Februar 2015 in der Dreikönigskirche Dresden
(überarbeitete Fassung)

Christof Ziemer: »Frieden ist die Fähigkeit, miteinander zu leben. Das Allerselbstverständlichste erweist sich als das Schwierigste.« (Fotografie: David Brandt)
Vor ziemlich genau 35 Jahren begann meine aktive Erinnerungsgeschichte mit dem 13. Februar. Ich hatte gerade als Superintendent in Dresden begonnen. Unter den Pfarren wurde damals – im Februar 1980 – die Frage diskutiert, ob am 13. Februar zur Erinnerung an den ersten Angriff noch alle Kirchenglocken der Stadt geläutet werden sollen. Ist es – so fragte man damals – nach 35 Jahren nicht genug mit dieser Form der Erinnerung?
Ich erinnere daran, um uns bewusst zu machen, wie sich unsere Sicht der Erinnerung in den letzten 35 Jahren dramatisch gewandelt hat. Heute, im Februar dieses Jahres, werden in ca. 70 Veranstaltungen in unterschiedlichster Weise die Ereignisse vor 70 Jahren erinnert, gestaltet, diskutiert und reflektiert: in Lesungen und Ausstellungen, in Gedenk- und Mahnwegen, in Vorträgen, Theaterstücken und Konzerten, in offiziellen Gedenkfeiern, Gottesdiensten und symbolischen Akten, auf wissenschaftlichen Konferenzen und nicht zuletzt in vielfältigen Formen der Begegnung.
Angesichts der Erinnerungsflut – in den Fachdiskursen zur Erinnerungskultur spricht man von einem memory boom – ist man versucht, aufseufzend mit dem Prediger Salomonis zu sagen:
Alles hat seine Zeit.
Weinen hat eine Zeit, lachen hat seine Zeit.
Klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit
Streit hat seine Zeit, Frieden hat seine Zeit.
(Prediger 3, 1.4.8)
Ich nehme das letzte Wort als Leitwort auf: Frieden. Das heutige Treffen trägt den Titel »Ortes des Friedens« und ist bestimmt durch die Anregung für die Überlebenden und die Gäste, Frieden zu erinnern. Also: Erinnerung und Frieden.
Was ist Frieden? Ein erster Impuls: Frieden ist ein Perspektivwechsel. Eine Blickverschiebung. Ich erinnere einen Ort des Friedens. Im Jahre 2001 war ich eingeladen nach Meeder, einem Dorf in der Nähe von Coburg, um dort die Festrede zum 350. »Friedensdank« zu halten. Im Jahre 1650 – zwei Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges – hatte der Coburger Herzog Friedrich Wilhelm II. zur Erinnerung an den Frieden von Münster und Osnabrück angeordnet, dass in allen Gemeinden im Coburger Land am ersten Sonntag nach Sebaldi (einem Sonntag im August) jährlich ein »Friedensdank« gehalten und gefeiert werde. In Meeder hat man diesen »Friedensdank« in 350 Jahren nur einmal – im Kriegsjahr 1944 – nicht begangen! In dieser erstaunlichen Erinnerungsgeschichte liegt ein Perspektivwechsel, eine Blickverschiebung vom Krieg auf den Frieden, von der Erinnerung an Gewalt, Feindschaft und Krieg zur Ausrichtung auf den Frieden. Übertragen wir dies auf heute, dann erweisen sich 70 Jahre nach der Zerstörung Dresdens ja auch als 70 Jahre Frieden. »70 Jahre Frieden« aber lenkt den Blick fast zwangsläufig von der Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft. Und »Friedensdank« erinnert daran, wie wenig selbstverständlich Frieden ist, wie auch in diesen 70 Jahren das »Nie wieder« anderswo erschreckend außer Kraft gesetzt wurde und wie zerbrechlich, wie gefährdet der Frieden heute ist. Und wie darum in der Friedenserinnerung die Herausforderung liegt, Frieden zu bewahren, zu stiften und zu gestalten, den eigenen Ort als Ort des Friedenshandelns zu entdecken.
Was ist Frieden? Ein zweiter Impuls: Frieden ist eine Blickerweiterung. Ich sehe nicht nur das eigene Schicksal, das eigene Ergehen, das eigene Leid. Ich frage, wie hängt mein Leid mit dem Leid anderer zusammen? Mein Blick richtet sich auf ein Ganzes, auf die Zusammenhänge, in die unsere Erfahrung eingebunden ist. Vom Frieden her fällt ein neues Licht auf unsere Erinnerung.
Ein Beispiel für eine solche Blickerweiterung ist unser Treffen, das heute zum 11. Mal am Vormittag des 13. Februars stattfindet: Am Anfang standen die Erzählung und der Austausch der Überlebenden, daraus wurde schon bald eine Treffen der Generationen. Heute erleben wir, wie im Engagement für Frieden und Versöhnung daraus eine Begegnung mit europäischen Freunden geworden ist.
Die Voraussetzung und Bedingung für eine solche Entwicklung war und ist freilich eine neue Wahrnehmung der eigenen deutschen Geschichte. Richard von Weizsäcker, der vor zwei Tagen zu Grabe getragen wurde, hat am 8. Mai 1985 eine solche neue Wahrnehmung der Geschichte auf den Punkt gebracht hat, indem er das Ende von Nationalsozialismus und Krieg, das in den familiären Erzählungen immer nur »der Zusammenbruch« hieß, als »Befreiung« gedeutet hat: als die Befreiung von einem unmenschlichen System. (Indem er darin Elemente der westlichen und der östlichen Gedenktradition zusammenführte, hat Richard von Weizsäcker zugleich einen Konsens formuliert, der fünf Jahre später zur erinnerungsgeschichtlichen Grundlage der deutschen Einheit geworden ist.)
Der Blick auf die Zusammenhänge auch der Dresdner Erfahrung ist niemals bequem, er ist schmerzhaft, mit Scham und Schuld über die eigenen Verwicklungen verbunden. Bevor Dresden zerstört wurde, sind Gernika und Wielun und Coventry durch deutsche Bomben zerstört worden. Bevor jüdische Mitbürger auch von Dresden aus in die Vernichtungslager deportiert wurden, war ihre Ausgrenzung im alltäglichen Leben auch von der Mehrheit der Dresdner billigend in Kauf genommen worden. Friedensarbeit ist Arbeit an und mit der eigenen Erinnerung. Wenn wir aber bereit sind, diesen Weg gehen, zeigen sich auch neue Möglichkeiten des Handelns. Und es kann sich jener Horizont öffnen, in dem aus Feinden Freunde werden. Friedensarbeit wandelt sich in solcher Blickerweiterung, wie wir sie in diesem Treffen erleben, zur Befreundungsarbeit.
Was ist Frieden? Ein dritter Impuls: Frieden ist die Fähigkeit, miteinander zu leben. Das Allerselbstverständlichste erweist sich als das Schwierigste. Was hindert uns, miteinander zu leben? Ich nenne eine doppelte Angst: die Angst vor dem Verlust des Eigenen und die Angst vor den ihrer Herkunft und Religion nach Fremden. In diesen Ängsten um uns und vor Anderen drückt sich die Befürchtung aus, dem Frieden, der die Fähigkeit ist, miteinander zu leben, nicht gewachsen zu sein.
Was heißt, miteinander zu leben? In meiner Friedensarbeit in Sarajevo haben sich mir vier Weisen des Zusammenlebens nahegelegt; ich nenne sie, um zu zeigen, dass wir dem Frieden durchaus gewachsen sein könnten: nebeneinander leben: das lässt den anderen gewähren, es lässt ihm seinen Raum, sein Recht, seine Freiheit, ohne ihm nahezutreten, und schließt – das anspruchsvollste – die Achtung des anderen ein; miteinander leben: das umfasst alle sich alltäglich ergebenden Begegnungsmöglichkeiten: vom miteinander arbeiten, miteinander streiten und handeln, bis zum miteinander feiern; füreinander leben: fügt das Element der Verantwortung für den anderen hinzu, die Solidarität mit dem Schwächeren; voreinander leben: dem anderen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, was es nicht geben kann, ohne dass ausgeräumt wird, was dazwischen liegt; das uns zugleich ahnen lässt, was Versöhnung heißen kann.
Ich schließe mit der Frage: Ist Dresden ein Ort des Friedens? Er sollte es sein! Wir möchten, dass Dresden ein Ort des Friedens wird. Was hindert uns? Ich versuche eine Antwort. Ist es nicht die merkwürdige Selbstbezogenheit der Dresdner, die ihre Fähigkeit, sich auf andere hin zu öffnen, behindert? Die Angst vor dem Verlust des Eigenen, das in Dresden die Gestalt des Besonderen hat? Dresden ist eine sehr schöne Stadt. Dresden ist sehr schlimm zerstört worden.
Das Besondere liegt darin, dass beide Sätze ins Superlative gewendet wurden und Dresden darüber nicht nur für die Dresdner zum erhabenen Symbol von Schönheit und Zerstörung geworden ist. Das Besondere löst sich auf, wenn bedacht wird, dass andere Städte noch schlimmer, mit mehr Opfern, zerstört wurden, und dass es selbstverständlich auch andere sehr schöne Städte gibt.
Die Infragestellung des Besonderen erleben die Dresdner als Demütigung und Kränkung, weil sie ihre Seele, ihr Selbstwertgefühl an das Besondere ihrer Stadt gebunden haben. Der Friede der Stadt, die Fähigkeit zum Miteinander, aber wird befördert, wenn wir bereit werden, die Selbstbezogenheit loszulassen und anfangen, die auf Dresden bezogene Selbstliebe zu verwandeln: das Besondere in das sozial Offene, das Erhabene aber in das Lebendige.