Das europäische Bürgerprojekt »Bridging Generations« gab unserer Gruppe im November 2015 Gelegenheit, an einem Studienaufenthalt in Thessaloniki (Griechenland) teilzunehmen. In diesem Projekt setzen sich Menschen mehrerer Generation aus Polen, Ungarn, Italien, Griechenland und Deutschland mit dem Erinnern an das konfliktreiche 20. Jahrhundert in ihren Gesellschaften auseinander.
Im Mittelpunkt der Erkundungen, Begegnungen und Diskussionen in Thessaloniki standen die tragische Geschichte der jüdischen Bevölkerung der Stadt im Zweiten Weltkrieg und das öffentliche Erinnern daran in den darauf folgenden Jahrzehnten.
Thessaloniki war über Jahrhunderte hinweg Heimat für eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Europas. Nachdem sich zahlreiche sephardische Juden hier niedergelassen hatten, stellten sie die größte Bevölkerungsgruppe der Stadt. Dies endete apprupt nach der Okkupation Griechenlands durch die deutsche Wehrmacht und dem folgenden Holocaust: Im August 1943 waren 50.000 Menschen, d.h. mit wenigen Ausnahmen die gesamte jüdische Bevölkerung Thessalonikis, in die Vernichtungslager deportiert worden. Kaum einige Hundert von ihnen überlebten. Eine der bedeutendsten Kulturen des Mittelmeerraumes war ausgelöscht worden.
In den folgenden Jahrzehnten beeinflusste die konfliktreiche Geschichte Griechenlands – Bürgerkrieg, Diktatur, gefährdete Demokratie und gesellschaftliche Krisen – das öffentliche Erinnern an die jüdischen Einwohner der Stadt. Je nach politischen und gesellschaftlichen Interessen wurde dieser Aspekt der Stadtgeschichte im öffentlichen Bewusstsein lange Zeit verdrängt oder lediglich selektiv erinnert. Erst in jüngster Gegenwart scheint eine zunehmend differenzierte Auseinandersetzung möglich. Das heutige Thessaloniki thematisiert zumindest seine reiche jüdische Kulturtradition mit Stolz. In der Stadt leben erneut jüdische Gemeinschaften. Dennoch ist das öffentliche Erinnern an das jüdische Erbe der Stadt und den Holocaust nach wie vor von Konflikten überlagert – etwa in der Auseinandersetzung mit Kollaboration und Nationalismen.
Weitere Informationen zum Projekt »Bridging Generations«: www.bridging-generations.de.

Thessaloniki. Bahnhofsgelände gegenüber des ehemaligen Baron-Hirsch-Ghettos, von dem aus die Deportationszüge nach Ausschwitz, Treblinka und in weitere Vernichtungslager abfuhren.
(Foto: Matthias Neutzner)

Thessaloniki. Gedenkplakette an den Holocaust an den jüdischen Einwohnern der Stadt am Deportationsbahnhof.
(Foto: Matthias Neutzner)