
Die Fotografie zeigt eine Begrenzungsmauer des Friedhofes der Remuh-Synagoge in Kraków. Sie ist aus den aufgefundenen Überresten von Grabsteinen zusammengesetzt, die während der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg entfernt und für Bauarbeiten benutzt wurden. Die zusammengetragenen Fragmente jüdischer Geschichte und Kultur werden hier zum Mahnmal für das Menschheitsverbrechen Holocaust. Sie weisen gleichzeitig darauf hin, dass die abstrakten, in ihrer Dimension kaum nachvollziehbaren Ereignisse konkrete Menschen und Schicksale betrafen. Jedes Bruchstück steht für eine der vielfältigen Biografien der Betroffenen – aber auch für das Fragmentarische und Ambivalente der Erinnerungen an Vergangenes. Die Installation wiederum kann als Verweis auf die Gegenwart gelesen werden, die Geschichte immer wieder neu interpretiert und dafür Erzählungen, Zeichen, Rituale und Institutionen schafft.
Internationale Jugendbegegnung
Bezügen dieser Art nachzugehen, das war das Ziel einer internationalen Jugendbegegnung in Kraków, die unsere Gruppe gemeinsam mit der polnischen Fundacja Instytut Europejski, dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk und dem Dresdner Partnerverein Jugend- und Kulturprojekte e.V. gestaltete. Eine Woche lang diskutierten Studierende aus Polen, Italien und Deutschland zusammen mit weiteren Teilnehmenden aus Ungarn, Griechenland und Kasachstan über Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik. Matthias Neutzner aus unserer Gruppe koordinierte und leitete die deutsche Gruppe.
Vorträge, Diskussionen und Exkursionen
Das anspruchsvolle Programm beinhaltete Vorträge und Diskussionen mit renommierten Dozent:innen mehrerer polnischer Universitäten zur Geschichte der deutschen Besetzung Polens und des Holocaust in der Region, zur Entwicklung der Holocaust-Forschung, zur juristischen Verfolgung der Verbrechen sowie zu aktuellen Entwicklungen der Geschichtspolitik in Polen und Europa.
Den Rahmen für die Auseinandersetzung mit diesen Themen bildeten überaus interessante und berührende Exkursionen: In einer mehrstündigen Führung durch die historischen jüdischen Wohnviertel wurde die jahrhundertelange Geschichte jüdischer Menschen, Gemeinschaften und Kultur in Kraków lebendig. Die anschließende Erkundung der Straßen des ehemaligen Ghettos im Stadtteil Podgórze, in das ab 1941 die jüdischen Einwohner:innen Krakóws gezwungen wurden, verwies auf den Zivilisationsbruch des Holocaust. Im engen Zusammenhang damit stand das ehemalige Konzentrationslager Płaszów am Stadtrand. Als in den Jahren 1942 und 1943 das Krakauer Ghetto von den deutschen Besatzern schrittweise liquidiert wurde, wurde das Lager zum Ort systematischer Tötungen und zur Zwischenstation in die Vernichtungslager Auschwitz und Belzec.


Das ausführlichen Erkunden der historischen Orte machte die geschichtlichen Abläufe deutlich, zeigte jedoch gleichzeitig die Herausforderungen auf, inmitten des Alltags der lebendigen Großstadt an die Verbrechen zu erinnern und ihre Dimension erlebbar zu machen.
Sowohl der historische Kontext des Holocaust als auch die Entwicklung des Erinnerns daran standen im Mittelpunkt des Besuchs in den Gebäuden der ehemaligen Fabrik Oskar Schindlers. Das dort untergebrachte Museum vermittelt die Geschichte Krakaus unter der deutschen Besatzung. Der Ort selbst verweist auf die weltweit bekannte Erzählung »Schindlers Liste«. Gerade die Rezeptionsgeschichte von Steven Spielbergs Film gab vielfältig Anlass, über die mediale Vermittlung und Überformung des historischen Geschehens durch Kunst und Medien zu diskutieren.

Auschwitz
Zum berührenden Höhepunkt der Exkursionen wurde der ganztägige Besuch im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Die mehrstündigen Führungen in den Lagern Auschwitz I und Auschwitz II (Birkenau) vermittelten die historischen Geschehnisse. Sie verwiesen auf das unvorstellbare Leid und das monströse Verbrechen des Holocaust. Das Erlebnis wurde zum Ausgangspunkt intensiver Diskussionen unter den Teilnehmenden – etwa zu den Ursachen von totalitären Ideologien, Rassenwahn und Genozid, zum Versagen von Menschlichkeit, zu Zuschauern, Mitläufern und Tätern, zum Weiterleben von Rassismus in der Gegenwart.



Austausch und Diskussion
Wichtiger Teil der Jugendbegegnung war die intensive Workshoparbeit in gemischten Gruppen und Plenumsdiskussionen. Sie bot nicht nur Gelegenheit, die geschichtlichen Zusammenhänge zu diskutieren, sondern vor allem auch aktuelle Entwicklungen im Umgang mit Vergangenheit deutlich zu machen. Dabei waren der Geschichtsrevisionismus in rechtsextremen oder nationalistischen Szenen in Deutschland genauso Thema wie der ambivalente Umgang mit der faschistischen Vergangenheit in Italien oder die nationalistische Inanspruchnahme von Geschichte in Polen. Lernen aus der Vergangenheit, so wurde deutlich, ist nicht selbst-verständlich. Geschichte kann auch für Ziele erinnert werden, die Menschenrechten und Demokratie entgegenstehen. Dies zu verstehen und eine verantwortungsvolle Erinnerungskultur zu gestalten, ist eines der wichtigsten Aufgabenfelder politischer Bildung und zivilgesellschaftlichen Engagements.




Begegnung als Katalysator für Friedenskultur und politische Bildung
Die Jugendbegegnung in Kraków zeigte nach eineinhalb Jahren pandemiebedingter Beschränkungen eindrucksvoll, wie fruchtbar die persönliche Begegnung, das Vor-Ort-Erkunden und die intensive gemeinsame Bildungsarbeit sein können. Unsere Gruppe hat in den vergangenen Monaten neue Online-Formate und Partner erschließen können – beispielsweise in den gemeinsamen Veranstaltungen mit dem Russisch-Deutschen Begegnungszentrum St. Petersburg zum Erinnern an die Blockade Leningrads. Dennoch: Die persönliche Begegnung und das Erleben von Friedenskultur und Bildung im unmittelbaren Kontakt von Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Kulturen bleibt unverzichtbar.

Text und Fotografien: Matthias Neutzner