Im Rahmen der Veranstaltungswoche FRIEDEN | KULTUR | STADT diskutierten am 20. September 2016 Dresdnerinnen und Dresdner mit Gästen aus Coventry, Pforzheim, Osnabrück und Würzburg: Versteht sich die Kulturstadt Dresden auch als Stadt der Friedenskultur? Was bedeuten »Frieden« und »Kultur« in diesem Zusammenhang? An welche Traditionen können wir anknüpfen? Was gefährdet die Kultur des Miteinander in unserer Stadt? Was können, was sollten wir tun?
Impulsbeitrag
Anja Bohländer | Über die Psychologie von Demokratie und Frieden. Die Bedingung der Möglichkeit einer friedlichen politischen Kultur
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.« So das berühmte Diktum des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde. Dieser Satz aus dem Jahre 1964 hat nie an Bedeutung verloren, aber er verblasste in der gegenwärtigen Vergangenheit. Für die Gegenwart und für unsere gegenwärtige Zukunft aber gewinnt er immens an Bedeutung. Demokratie und Frieden kann eben nicht durch die Mittel des Rechtszwangs und autoritativen Ge- und Verboten durchgesetzt werden. Es braucht sowohl für die Verwirklichung der Ideen der Grundrechte und damit sowohl für die freie Entfaltung des Einzelnen als auch für die Integration in eine politische Gemeinschaft Ressourcen, die durch die Zivilgesellschaft erbracht werden. 2010 präzisiert Böckenförde sein Diktum wie folgt: »Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art »Gemeinsinn« bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur.« Nun ist der Kulturbegriff nicht einfach zu fassen. Schon gar nicht der hier gemeinte politische Kulturbegriff. Doch lässt sich sagen, dass die Existenzbedingungen einer freiheitlichen, friedlichen und demokratischen Ordnung wesentlich durch Vernunft, Tugend und gemeinschaftliches Verantwortungsbewusstsein bedingt ist. Mithin geht es um die Moral der Gesellschaft, ihren Charakter und ihr Selbstverständnis.
Frieden, meine Damen und Herren, verstehe ich als ein Gut, das nur öffentlich werden kann, wenn die Menschen im Innern von Frieden beseelt sind. Wer im Innern nicht zufrieden ist, wer keinen Frieden in sich fühlt, kann nach Außen keinen Frieden geben. Die aktuelle Asylsituation offenbart, dass viele Menschen nicht mit sich in Frieden leben. Die Flüchtlingsdebatte ist vor diesem Hintergrund eine Chance, über politische Kultur zu sprechen. Und dafür wird es Zeit. PEGIDA und der politische Rechtspopulismus haben gezeigt, wie wichtig das soziale Kapital dieser Stadt ist. Gerüchte werden zur Realität erklärt. Mythen, Ressentiments und Verschwörungstheorien werden so zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses, das in Dresden ohnehin belastet ist. Kann man so ein radikal enthemmtes Verhalten, das in der Tat besonders Ostdeutschland, Sachsen und hier speziell Dresden erfasst, erklären?
PEGIDA ist nicht einfach aus dem Himmel gefallen. Seit der Wende besteht hier ein Fremdheitsgefühl, verursacht durch die überwältigende Identitätstransformation, die in ihrer Dimension gehörig unterschätzt wurde. Die Wiedervereinigung führte zu einer kulturellen Überfremdung – nicht nur »in der Wahrnehmung der ostdeutschen Bürger«, wie der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer beobachtet, sondern umfasste die Transformation nahezu alle Lebensbereiche. Der Anpassungsdruck und die Anpassungsleistungen waren enorm. Im Schweinsgalopp ging es durch die Transformationsmaschine. Darauf vorbereitende Integrationsseminare oder vertrauensbildende Maßnahmen gab es keine. Die träumerische Freiheit der Vorwendezeit entblößte also ihre Bedingungen: Selbstorganisation und Selbstverantwortung, die ganze Klaviatur des Liberalismus. Die Autorität des DDR-Systems auf der einen, die Erwartungssicherheit prädisponierter Lebenswege auf der anderen Seite, entfiel. Scheitern wurde konkret. Existenzangst war neu. Aus psychologischer Sicht sind das enorme Stressfaktoren. Ganze Lebensläufe wurden entwertet, Leistungen aberkannt, Umschulungen abgefordert. Alles, was funktionierte, funktionierte aufgrund westdeutscher Ressourcen. Westdeutsch geprägte Menschen wiederum verstanden nicht, wie die ostdeutsche Gesellschaft funktionierte und woraus sich die Gesellschaft konstruierte, aus welchen sozialen und kulturellen Ressourcen sie sich speiste. Der demokratische Raum war gestört.
Über viele Jahre war und ist der öffentliche Raum gestört durch eine Pathologie des Umbruchs, die ein Trauma hinterlassen hat. Die Menschen, die im politischen System von Freiheit, Frieden und Demokratie nie wirklich angekommen sind, vertrauen nur in geringem Maße dem institutionellen und systemischen Prozess, Zeiten der Umbrüche und Transformationen zu bewältigen. Sie verurteilen nicht die Demokratie, wohl aber kritisieren sie ihre Performanz. Sie haben schlicht ihre eigenen Umbrüche und Transformationen nicht bewältigt. Die politische und soziale Gemeinschaft erscheint zu mancher Stund noch immer wie eine Utopie. Selbst (noch immer) fremd im eigenen Land und mit dem politischen System nicht verwurzelt, trifft die Asylthematik in eine vernarbte Seele. PEGIDA fungiert als Selbsthilfegruppe einer homogenen, genuin ostdeutschen Gemeinschaft (auch Frau Festerling hatte keine Chance dauerhaft im Orga-Team von PEGIDA Fuss zu fassen). PEGIDA ist zudem Katalysator für Wut, Frust oder Existenznöte. Mit ihrer Verdichtung gemeinschaftsbildender Symbole, dem Rekurs auf »Wir sind das Volk« schaffen sie Semantiken und Narrative mit identitätsstiftender Wirkung und einer gehörigen Portion Anerkennung, Wertschätzung und individuellem Bedeutungsgewinn für jeden Teilnehmer. Je hemmungsloser die Artikulation desto selbstbewusster werden die Protagonisten. Es ist die Soziologie eines Fußballstadions. Die Statistiken zu Brandanschlägen auf Asylunterkünfte und fremdenfeindlichen Übergriffen lässt keine Zweifel: der in Sachsen gefestigte Rechtsextremismus nutzt die Gunst der Stunde.
Was aber braucht die Gesellschaft, um sich politisch zu integrieren und sich mit dem System zu identifizieren? Das ist die entscheidende Frage. Eine erste Antwort lautet: Sie braucht den öffentlichen Raum. Ohne Kultivierung des öffentlichen Raumes kann Bürgergesellschaft, Gemeinsinn und Engagement nicht gedeihen. Ich möchte es konkret machen: Es braucht öffentliche Parks, Jugendclubs, Spielplätze mit kommunikativer Atmosphäre, Sitzbänke, belebte Gassen und lebendige Straßen, gemeinschaftsbildende Veranstaltungen, Unterstützung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und mehr Vertrauen in bürgerschaftliche Ideen und Projekte. Es reicht nicht der politische Talk einmal im Monat. Es reicht nicht, eine Bürgersprechstunde zu führen. Eine lebendige Stadt lebt von Praxis, vom Handeln ganz im Sinne von Hannah Arendt, das lebendig Halten politischen Interesses und gemeinsinnorientierter Neugier. Nur so kann die allerwichtigste Ressource gestärkt werden: Vertrauen. Undzwar gegenseitig: das intermediäre Vertrauen zwischen Staat und Gesellschaft sowie das zwischenmenschliche Vertrauen unter Bürgerinnen und Bürgern.
Verunsicherung und Transformationen führen zur Suche nach Selbstverortung der Menschen: wo bin, wer bin ich, was bin ich. Zwischen der Sehnsucht nach Heimat und dem Traum vom Freiheit – egal ob Einwanderer, Flüchtling oder Einheimischer: die Menschen dieser Stadt eint genau diese Fragen. Es braucht Raum, diese Fragen zu erörtern und es braucht ein Gehör, um Antworten zu finden. Demokratie und Frieden brauchen einen responsiven Raum, der den freien wertschätzenden Diskurs ermöglicht.
Die konservative Lesart sächsischer politischer Kultur hat auch verfassungsrechtliche Wurzeln. Die sächsische Verfassung von 1992 inkorporierte starke traditionelle und historisierte Identitätsmuster. Bemerkenswert ist auch Art. 101 Abs. 1 SächsVerf., die Heimatliebe gar zum verfassungsmäßig verbrieften staatlichen Erziehungsziel erklärt: »Die Jugend« so heißt es dort, »ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewusstsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.« Nun, in Erziehung steckt immer etwas Autoritäres. Vielleicht ist das ein Anhaltspunkt zur Lösung der Frage: Warum Sachsen? Frieden ist die Mutter der Freiheit. Freiheit aber ist etwas, das autoritär nicht funktionieren kann. Freiheit meint Verantwortung sowohl im Individuellen als auch in der Gemeinschaft. Frieden braucht also eine verantwortungsbewusste Gemeinschaft von Individuen. In diesem Sinne bin ich dankbar und mit großer Freude hier, um in Freiheit und gemeinsam mit Ihnen über Frieden sprechen zu dürfen. Vielen Dank.